„Stell dir eine Krake vor, die unter Wasser mit acht Armen alles gleichzeitig regeln muss.“

So beschreibt Annika, pädagogische Fachkraft in einer KiTa, ihren Arbeitsalltag. Zwischen Kleinkindern, Eltern, pädagogischen Konzepten und organisatorischem Chaos fühlt sie sich oft wie ein vielarmiges Wesen – überfordert, aber stets bemüht, alles irgendwie zusammenzuhalten.

Ich habe mit Annika gesprochen, weil ich verstehen wollte, wie die Realität in einem Berufsfeld aussieht, das gesellschaftlich extrem wichtig ist – und trotzdem kaum Beachtung in der Diskussion um die „Zukunft der Arbeit“ findet. Dabei ist das, was sie beschreibt, hochaktuell: Burnout, Personalmangel, mangelnde Wertschätzung, eine umständliche Bürokratie – aber auch erste zaghafte Ansätze einer modernen Arbeitskultur in Form von Supervision und Teamreflexion.

Das Interview zeigt, was passiert, wenn Care-Arbeit mit Hochleistung gekoppelt wird, ohne die nötigen Rahmenbedingungen. Und es stellt die Frage: Wenn Arbeit in Zukunft sinnstiftend, gesund und nachhaltig sein soll – warum schaffen wir dann gerade dort, wo es um unser aller Zukunft geht, ungünstige Bedingungen?

Kinder sind unser Fundament – aber wir sparen an ihnen

„Ich glaube, Kinder haben in unserer Gesellschaft nicht den Stellenwert, den sie haben sollten“, sagt Annika. Für sie ist es offensichtlich: Frühkindliche Bildung wird unterfinanziert, der Erzieher*innenberuf kaum wertgeschätzt – weder gesellschaftlich noch finanziell: „Ein Kind erbringt keine Wirtschaftsleistung, also kann man da ja sparen.“ äußert sich Annika sarkastisch.

Besonders bitter: Während andere für sichtbare Erfolge belohnt werden, bleiben große Entwicklungsschritte der Kinder im System unbeachtet: „Ich kenne jemanden, der verkauft Autos – und bekommt für jedes verkaufte Auto eine Prämie. Wenn bei uns ein Kind laufen lernt, sprechen lernt, trocken wird – kriegen wir maximal ein Danke.“

Was ihr und ihren Kolleg*innen helfen würde? Mehr Personal. Nicht nur, um die eigene Belastung zu reduzieren, sondern auch als Zeichen, dass die Gesellschaft verstanden hat, wie wertvoll diese Arbeit ist.

Scheinbare Entlastung – echte Mehrbelastung

Zwar gibt es bei Annikas Arbeitgeber Ausgleichsangebote wie Sportkurse – doch für berufstätige Mütter sind sie oft nicht realistisch umsetzbar: „Manchmal komme ich nach Hause und will einfach nur schlafen. Aber man hat ja noch ein Leben. Und dann wird gesagt: ‚Sie hätten ja die Möglichkeit.‘ Aber wenn ich erstmal jemanden organisieren muss, der auf mein Kind aufpasst – dann ist das kein Ausgleich, das ist Stress.“

Wertschätzung sieht für sie anders aus – nämlich in Form von realistischen Strukturen, nicht zusätzlichen To-Dos. Freizeit braucht Zeit, Energie – und passende Rahmenbedingungen.

Wenn der Beruf zu Hause weitergeht

Emotionen, Schicksale, Geschichten – Annikas Arbeit endet nicht mit dem Feierabend. Was sie mit den Kindern erlebt, trägt sie mit nach Hause: „Wenn ich dann zu Hause bin, möchte ich, dass die Zeit mit meinem Kind wertvoll ist. Aber mein Kind ist erschöpft, ich bin erschöpft. Das ist an vielen Tagen wirklich schwierig.“

Auch die Umstellung auf eine 4-Tage-Woche brachte nicht die erhoffte Entlastung: „Ich hatte gehofft, der Freitag entlastet mich. Aber es hat sich so viel angestaut, dass ich den Tag gar nicht so nutzen kann, dass er mir guttut.“

Supervision als Form von New Work-Ansatz

Mit dem Begriff New Work konnte Annika zunächst wenig anfangen – doch als wir über Prinzipien sprechen, fällt ihr sofort ein Beispiel ein: die Supervision in ihrer KiTa. „Wir arbeiten da an unserer Philosophie: Wie können wir unsere Arbeit optimieren? Wie stärken wir unser Selbstbild? Wo sind unsere Grenzen?“

Zweimal im Jahr findet die Supervision mit einer externen Coachin statt – ein Raum für Reflexion, Entwicklung, Teamzusammenhalt. Doch Annika wünscht sich mehr: „Einmal im Monat wäre ideal. Sonst rückt alles wieder in den Hintergrund. Und jede*r sucht sich das raus, was Priorität hat – dann geht es wieder durcheinander.“

Dass die Initiative zur Supervision von der KiTa-Leitung ausging, empfindet sie als starkes Signal: „Unsere KiTa-Leitung hat das initiiert – das finde ich super. Und weil die Moderation neutral ist, kann man da auch mal unserer Leitung Feedback geben, ohne dass man gleich in die Defensive geht.“

Mehrsprachigkeit als Herausforderung

Ein Thema, das Annika besonders beschäftigt: Sprachbarrieren. Und wie wenig Unterstützung es oft gibt, um diesen Herausforderungen zu begegnen. 
„Immer öfter betreue ich Kinder, die gar kein Deutsch sprechen – das ist für alle Beteiligten eine stressige Situation: für das Kind, für uns Fachkräfte und auch für die Eltern.“ Zwar gebe es Fortschritte, etwa durch den Einsatz von Dolmetscher*innen bei Elterngesprächen – aber vieles hänge vom Träger ab. Kommunale Einrichtungen seien oft zu unflexibel, um spontan reagieren zu können.
 Was bleibt, ist das Gefühl: Die Kinder müssen viel zu früh viel zu viel leisten. Und die Fachkräfte auch.

Burnout: Wenn das System krank macht

Wie sehr die Belastung in sozialen Berufen an die Substanz geht, zeigen auch Studien:
 Laut dem Niedersächsisches Institut
für frühkindliche Bildung und Entwicklung e.V. leidet jede zehnte pädagogische Fachkraft unter Burnout*. Und die Bertelsmann Stiftung stellt fest: Erzieher*innen sind überdurchschnittlich oft krank – vor allem wegen psychischer Belastung**.

Auch Annika denkt manchmal ans Aufhören: „Aber nicht, weil ich das will. Ich schaffe diesen Ausgleich gerade nicht. Ich habe sehr große Sehnsucht nach Stille. Nach einem Job ohne Menschen. Ohne Überraschungen.“ Annikas Krtierien an einen neuen Job: Kein ständiges Gebrauchtwerden. Kein emotionales Auf und Ab und Ruhe.

Emotionale Arbeit

Es geht nicht nur um körperliche Erschöpfung. Annika beschreibt, wie sehr auch die emotionale Dauerbelastung am Beruf zehrt – nicht nur bei ihr, sondern auch im Umfeld: „Man hat viele Freund*innen in diesem Berufsfeld, und man selber sieht auch, was das mit ihnen macht – körperlich und mental.“ Ihr eigenes Kind äußerte einmal den Wunsch, selbst Erzieher*in zu werden. Annikas Antwort: „Das lässt du mal schön bleiben.“


Denn sie weiß, was der Job abverlangt: Kraft, Nerven, Aufmerksamkeit. Und das täglich – auch dann, wenn Kinder mit schweren Geschichten in die Einrichtung kommen: Tod in der Familie, Krankheit, Trennung oder Umzüge.

Kaffee trinken? Ich zeig euch mal meinen Schrittzähler

Eines der hartnäckigsten Klischees über Erzieher*innen: Sie würden den Tag mit Kaffeetrinken verbringen. Annika lacht – und hat direkt ein Bild parat: „Ich weiß nicht, wann ich hier außer in meiner Pause noch einen Kaffee trinken soll. Manchmal würde ich gerne meinen Schrittzähler zeigen – und meine Herzfrequenz! Das ist Sport. Acht Stunden durch.“

Auch der inoffizielle Austausch wird falsch ausgelegt oder unterschätzt: „Wenn wir mit den Kindern draußen sind, besprechen wir Projekte, tauschen uns über Kinder aus. Was andere im Meetingraum machen, machen wir nebenbei auf dem Spielplatz - weil es die Zeit oft nicht anders erlaubt.“

Inklusion braucht Haltung

Annika beobachtet politische Entwicklungen mit Sorge – vor allem, was Inklusion und Integration betrifft: „Wenn das Fundament von zu Hause nicht offen ist für Vielfalt, können wir noch so viel tun. Dann stoßen wir an Grenzen.“

Aktuell habe sie in ihrem Arbeitsumfeld noch keine fremdenfeindlichen Vorfälle erlebt. Doch die Angst vor dem, was kommt, ist da. Und sie spürt, wie politische Rhetorik zunehmend Einfluss nimmt.

Digitalisierung KiTa-Alltag

Obwohl viele Prozesse inzwischen digitalisiert sind – etwa Urlaubsanträge, Krankmeldungen oder Zeiterfassung –, bringt das den Fachkräften im Alltag nicht automatisch Entlastung: 
„Unsere Zeiterfassung und Personalsachen laufen über ein System. Mit dieser Software kann man bestimmte Fragen an die Personalarbeiter*in senden. Das habe ich vor Kurzem erst gemacht“, erzählt Annika. 
Klingt modern, bedeutet aber in der Praxis oft: zusätzliche Hürden. Denn um überhaupt an den Computer zu gelangen, muss sie sich erst aus der Gruppe rausorganisieren – was im KiTa-Alltag kein Selbstläufer ist. „Ich habe ja keinen Computer in meiner Gruppe. Dann muss ich warten, bis der Computer hochfährt – meistens gehe ich zum Computer und komme nochmal zurück, weil es so ewig dauert.” 
Hinzu kommt: Der persönliche Draht fehlt. „Ich weiß gar nicht, wer unsere aktuelle Personaler ist. Seitdem ich da arbeite, hat sich die Ansprechperson immer wieder gewechselt.“

Künstliche Intelligenz im KiTa-Alltag? Lieber nicht.

Dem Thema KI steht Annika skeptisch gegenüber: „Ich sehe nicht, wie ein Avatar Empathie zeigen soll. In unserem Beruf geht es auch um Wohlbefinden, Nähe, Lernen, Selbstverwirklichung, Selbstbestärkung, Kommunikation und ganz wichtig: Gefühle. Das kann Technik nicht ersetzen.“ In Annikas Augen besteht ihre Arbeit aus echten Beziehung und nicht digitaler Betreuung.

Wenn der Beruf ein Seriengenre wäre: Drama oder Dramedy

Annika lacht, als ich sie frage, welches Genre ihr Beruf hätte. Ihre Antwort: „Drama. Oder Dramedy.“

„Ich bin wie eine Krake – überall gebraucht.“

Am Ende unseres Gesprächs fasst Annika ihren Berufsalltag so zusammen: „Stell dir eine Krake vor, die unter Wasser ist und alles mit ihren Händen regeln möchte – und überall gebraucht wird.“

Ein schönes, poetisches Bild. Und eines, das viel über die Realität in Care-Berufen erzählt. In einer Welt, die immer mehr über Effizienz, Leistung und Output spricht, zeigt Annika uns: Gute Arbeit hat viele Arme – und oft zu wenige Schultern, die sie tragen.

Die Zukunft der Arbeit braucht mehr Arme

Das Gespräch mit Annika zeigt: Viele der Begriffe, die in modernen Unternehmen gerade als innovativ gelten – Selbstwirksamkeit, Sinn, Resilienz, Zusammenarbeit, Transformation – sind in sozialen Berufen längst gelebter Alltag. Nur fehlt es oft an den Ressourcen, um diese Konzepte gesund, nachhaltig und wertschätzend umzusetzen.

Supervisionen können Teams stärken – aber nur, wenn sie regelmäßig stattfinden und nicht als Alibi-Maßnahme verpuffen. Entlastung durch Technik? In einem Berufsfeld, das auf Nähe, Empathie und Spontaneität basiert, kaum vorstellbar.

Was wir brauchen, ist eine breitere Definition von „Zukunft der Arbeit“ – eine, die nicht nur von Tech-Konzernen und Wissensarbeiter*innen geprägt wird, sondern auch von Menschen wie Annika. Menschen, die mit ihrer Arbeit unsere Gesellschaft zusammenhalten.

Über Annika

Seit über 13 Jahren begleitet Annika (Name redaktionell geändert), 33 Jahre alt, Kinder im Vorschulalter auf ihren ersten Schritten ins Leben. Ihre Karriere begann mit einem Praktikum – heute arbeitet sie in einer kommunalen KiTa und kennt die Herausforderungen des Berufs aus nächster Nähe.

Quellen

* Jede zehnte Erzieherin leidet unter Burnout
** Erzieher*innen überdurchschnittlich oft krank


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New Work – was willst du wirklich, wirklich?